
ARTISTSTATEMENT
Sind nicht alle Aussagen über zeitgenössische Malerei hinfällig, im Angesicht der ‚ewigen Wiederkehr des immer gleichen‘? Darf Kunst ‚frei‘ bleiben von tatsächlichen Gegebenheiten, oder ‚muss‘ sie es sogar? Sie kann es, wenn ich als Künstler.in es will und kann.
In meiner Malerei geht es um die Möglichkeit, die Leinwand immer wieder
frei zu halten von Eindeutigkeit, Transparenz, Offensichtlichkeit. Malerische Prozesse
wirken nachhaltig im Unbestimmten. Formen, Ebenen, Verläufe ergeben Ansichten,
schaffen Möglichkeiten der ‚Sicht‘, der ‚Ansicht’, ohne Festschreibung. Eine Ästhetik
der Unberechenbarkeit, so wechselhaft wie das Leben, verfolge ich mit malerischen
Mitteln. Meine Malerei verführt, hin zu starken Empfindungen, zum Loslassen von Begrenzung, zum Fühlen.
Mein Ziel ist es, Zeitlosigkeit zu evozieren, Unabhängigkeit im Malerischen trotzdem
authentisch zu erreichen.So kann die ‚ewige Wiederkehr des immer gleichen‘ auf immer neuen Wegen weitergehen.
Von der Regellosigkeit
Ist-Zustand. Fotografien von Stefan Krausen
Galerie erstererster, Berlin 13. – 22. November 2015
Von Andreas Rauth
Der Fotograf Stefan Krausen hat nach Stationen in Köln und Wuppertal, die ihn von der Still-Life- zur Theater-Fotografie geführt haben, in München zu seinen freien fotografischen Arbeiten gefunden. Wichtige Vorbilder für Krausen, der konsequent analog arbeitet, sind die amerikanischen Fotografen William Eggleston und Saul Leiter, wobei letzterem der größere Einfluss zukommt. Wie bei diesem richtet sich Krausens Blick auf das urbane Leben, dem er in den anonymen Dingen und Situationen der Großstadt nachspürt.
In seinem Bilderzyklus Ist-Zustand befasst sich Stefan Krausen mit marginalen Alltagserscheinungen, in denen sich zwei zentrale Kategorien der Moderne berühren: das Zufällige und das Flüchtige. Dabei verzichtet er auf einen beruhigenden Gegenpol: vergeblich sucht man in den Bildern nach einer anderswo zu erfahrenden Notwendigkeit und Dauerhaftigkeit. In Ist-Zustand sucht Stefan Krausen das ästhetische Antlitz dessen (auf), was nicht nur nie so gemeint war (so wie er es vorführt), sondern auch (so) nicht mehr wiederkehrt und überhaupt bedeutungslos ist. Was die Fotografien zeigen, liegt für jedermann sichtbar da, obwohl es vermutlich kaum wahrgenommen wird und insofern gleichzeitig verborgen, stumm ist.
Erst der Blick des Fotografen entlockt dem öffentlich Verschleierten, das uns wie ein nie gestelltes Rätsel begleitet, schwach vernehmliche Laute, welche in der Verdichtung einer Serie, die dessen Istzustand bündelt, deutlicher werden.


Die Bezeichnung Ist-Zustand liest sich zunächst als einfache Feststellung, doch enthält die Schreibweise eine kleine Irritation, indem der Bindestrich die beiden Wortteile, die er miteinander verbindet, trennt. Auch wenn dies laut Duden eine von zwei regulären Möglichkeiten ist: ein gewisser Aufforderungscharakter, nach der Beziehung von Sein und Zustand zu fragen, ist dem Begriff in dieser Form eigentümlich. Was also sagt der Begriff? Als eine Form von »sein« bezieht sich »ist« auf die Gegenwart, weshalb es sich beim Ist-Zustand um den gegenwärtigen Zustand handelt. Die empfundene Gegenwart eines Menschen ist allerdings sehr kurz, man sagt etwas über 2 Sekunden – ein Augenblick, ein Moment. Zustände können einen flüchtigen Charakter haben oder von großer Dauer sein. Der Istzustand, der eine Untereinheit des Zustands ist, und den man zu einem gegebenen Zeitpunkt feststellt, kann einmalig und unwiederholbar sein, er kann auch jedem anderen Istzustand soweit gleichen, dass Unterschiede unbedeutend werden – immer ausgehend von der nicht technisch unterstützten menschlichen Wahrnehmung. Zustände sind demnach nichts anderes als die Abfolge von Gegenwartseinheiten – und soweit es die für die Fotografie sinnlich wahrnehmbaren Dinge betrifft, sind es materielle Gegenwartseinheiten. Nun ist die Fotografie selbst eine technische Verstärkung der menschlichen Wahrnehmung, da sie u. a. durch sehr kurze Belichtungszeiten eine höhere zeitliche Auflösung besitzt. Dadurch ist sie in der Lage, diese sehr kurzen, ineinander übergehenden Momente zu fixieren. Berühmtestes Beispiel hierfür sind die Bewegungsstudien Eadweard Muybridges (1830–1904) aus den 1870er Jahren. Stellt man diesen eine Portraitfotografie gegenüber, so wird man daran nicht die Fähigkeit der Kamera bewundern, den Moment, den Ist-Zustand, festzuhalten, da sich dieser nur geringfügig von der eigenen Wahrnehmung unterscheidet. Hier bewundern wir eher die Fähigkeit des Fotografen, den oder die Portraitierte(n) möglichst gut ›getroffen‹ zu haben. Denn was bei den Bewegungsaufnahmen von Vorteil ist, ist hier ein Nachteil, da die menschliche Wahrnehmung von Gesichtern immer ein Kompositum aus vielen Eindrücken gleichzeitig ist. Hier deckt sich der Istzustand der Fotografie nur im Glücksfall mit dem der Wahrnehmung. Erst in der zeitlichen Distanz bemerken wir die größeren Veränderungen, die Bewegung des Gesichts – nicht die mimischen, sondern die Erosionen des Alters. Der Istzustand als die zeitliche Minimaleinheit ist nicht nur stark wahrnehmungsabhängig, er trägt auch immer schon den Keim der Veränderung in sich. Der Indikativ »ist«, also die Wirklichkeitsform, ist ohne die Möglichkeitsform nicht denkbar. So wird der Zustand als die fortlaufende Reihe der Istzustände zu einer permanent sich verschiebenden Absprungmarke – wohin?
Der Istzustand wird bei Stefan Krausen zum Chronotopos, das Momenthafte und das Detail verschmelzen zum Bild des Möglichen, das, von seinen Wurzeln gekappt, ohne Richtung ist. Weit davon entfernt, die Entfremdung des Großstadtlebens zu beklagen, weiß Stefan Krausen diese Anonymität noch zu steigern. Es geht ihm nicht um ein pars pro toto. Wenn seinen Motiven überhaupt noch eine Zeichenhaftigkeit innewohnt, so ist zumindest unklar, für was sie stehen sollen. Denn selbst wenn wir in der Lage sind, bekannte Dinge zu identifizieren (ihre Wurzeln zu erkennen), hilft dies für das Verständnis der Bilder kaum weiter. Fragment und Augenblick gehören zu den großen ästhetischen Kategorien der Moderne; der Dichter Charles Baudelaire konnte Mitte des 19. Jahrhunderts auf ihnen eine komplette Poetik errichten, die noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit Kurt Schwitters und den Dadaisten ihren vielleicht wichtigsten Ausdruck innerhalb einer Kritik an der bürgerlichen Moderne erhielt. Bei Baudelaire, der als erster die Großstadt für die Poesie entdeckte, liest man im Gedicht Le Soleil von der Arbeit des Dichter:

Will durch die Vorstadt mit verfallenen Häusern ziehn,
[…]
Und dort mein wunderliches Fechthandwerk ausführen,
Zufällig in den Winkeln einen Reim aufspüren,
Über die Worte hin wie übers Pflaster holpern,
Zuweilen an schon lang erträumte Verse stolpern.1
Der Dichter entdeckt stolpernd, also unbeabsichtigt, weil sich ihm etwas in den Weg stellt, das Material seiner Träume. Und zwar in den Resten, im Verfall, im Abfall oder auch Müll. Und in Der Wein der Lumpensammler wird das Bild noch einmal variiert:
In alten Vorstadtgassen mit winkeligem Lauf
Wo sich die Menschheit tummelt, als zög Gewitter auf,
Sieht man den Lumpensammler übers Pflaster holpern,
Kopfschüttelnd wie ein Dichter gegen Mauern stolpern;2
Gut sechzig Jahre später, am Ende des Ersten Weltkriegs, findet Kurt Schwitters in den Trümmern Berlins das Material für eine neue Kunst: »Müllabfälle«, die er »zusammenleimte und -nagelte« . Den Namen für diese Kunst, nämlich MERZ, 3
liefert ein Fragment: die zweite Silbe von ›Kommerz‹.
Das Wort MERZ bedeutet wesentlich die Zusammenfassung aller erdenklichen Materialien für künstlerische Zwecke […] Dabei ist es unwesentlich, ob die verwendeten Materialien schon für irgendwelche Zwecke geformt waren oder nicht. Das Kinderwagenrad, das Drahtnetz, der Bindfaden und die Watte sind der Farbe gleichberechtigte Faktoren,4
schreibt die Kunsthistorikerin Magdalena M. Moeller.
Schwitters nähert sich auf diese Weise dem an, was meiner Ansicht nach den zentralen Aspekt der Serie Ist-Zustand ausmacht: Indem Kurt Schwitters ein Fundstück zum Symbol und Markenzeichen seiner Kunst erhebt, schafft er eine poetische Utopie aus Alltagsresten. MERZ ist Schwitters Utopia. Stefan Krausen führt ebenfalls Fundstücke vor, verzichtet jedoch auf diesen programmatischen Anteil, für ihn ist selbst noch MERZ – das Sammelbecken für alles Unvereinbare –
nicht mehr auffindbar. Und auch nicht Ziel: Er will dem Formlosen, dem Fragment, keine neue Form mehr geben, mag sie selbst auch noch so zufällig und wandelbar sein. Die Regel, die Schwitters sich selbst erfand, hat sich bei ihm in Regellosigkeit aufgelöst.

Utopie meint dem Wortsinn nach Nicht-Ort. Dies ist zu unterscheiden von der utopischen Vision einer zukünftigen Gesellschaft wie sie nicht nur Schwitters erträumte. Und genau solchem Nicht-Ort begegnen wir in Stefan Krausens Ist-Zustand. Es trifft sich der Nicht-Ort im Istzustand und dies ist das Sprungbrett einer Ästhetik, die erst einmal auf sich selbst bezogen ist, die jedenfalls keine Auskunft mehr über die Stadt geben will, weder der gegenwärtigen noch einer zukünftigen. Sie will einen radikalen Neuanfang, indem sie sich auf das Vorstellungsvermögen, die Einbildungskraft, verlässt. Und zwar weil die Einbildungskraft, die von ihrem Wesen her so unberechenbar ist wie der Nicht-Ort, den wir hier vorgestellt bekommen, es mit diesem aufnehmen kann; wo der Verstand ins Leere läuft, öffnet sich im Spiel der Phantasie eine neue Welt. Der Philosoph Dietmar Kamper bezeichnet »die Einbildungskraft [als] das Vermögen der Erfindung von Regeln und Regulativen, für die es keine Regeln gibt.« Das war Schwitters Idee: MERZ, die verselb 5 -ständigte Silbe, zur Chiffre eines Weltbildes, dem »MERZgesamtweltbilde« 6 erhoben, welches Schwitters selbst war: »Jetzt nenne ich mich selbst MERZ« , bekannte 7 der Dadaist. MERZ ist eine neue Identität, gefunden in den Trümmern des Krieges.
In Stefan Krausens Ist-Zustand bleibt der Fund hingegen ergebnisoffen, seine Utopie bleibt ein Nicht-Ort; weder gerinnt sie zur Form eines Gesamtweltbildes noch zu einer neuen Identität. Dass seine Bilder nicht vor dem Hintergrund eines gerade zu Ende gegangen Krieges entstanden sind, dürfte wohl kaum des Einwands wert sein.
Bei Kamper liest man weiter, dass die Einbildungskraft »zum Fortschritt der Gattung unerläßlich und zugleich gefährlich, das heißt: nicht vollends regulierbar«8 sei. Dieses Unregulierbare der Imagination trifft sich mit dem Unregulierbaren des Mülls, des Abfalls – wie schon bei Baudelaire und Schwitters. Im Unterschied zu diesen aber ist es das entblößte Unregulierbare selbst, dessen wir in Ist-Zustandgewahr werden und das im Akt einer permanenten Aktualisierung besteht. In eine Frage gewendet könnte diese lauten, wie man sich in einer sich ständig aktualisierenden Welt orientieren soll? Vielleicht, indem wir das Imaginäre als unsere Heimat anerkennen.
1 Charles Baudelaire, »Die Sonne«, in: Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen [1857], Stuttgart: Reclam 2011, S. 243.
2 Charles Baudelaire, »Der Wein der Lumpensammler«: 2011, S. 308.
3 Magdalena M. Moeller, »Die Welt des Alltags und Konsums«, in: Kurt Schwitters 1887–1948, Ausstellungskatalog Sprengel Museum Hannover, Frankfurt am Main/Berlin: Ullstein 1986, S. 110.
4 Magdalena M. Moeller, »Schwitters und der Sturm«, in: Kurt Schwitters: 1986, S. 102–104, hier S. 103.
5 Dietmar Kamper, »Die Geschoßbahn der Frage: Was ist der Mensch?«, Paragrana 11/2002, S. 38-50. http://kamper.cultd.net/
6 Joachim Büchner, »Kurt Schwitters und MERZ«, in: Kurt Schwitters: 1986, S. 10–20, hier S. 14.
7 Magdalena M. Moeller, »Schwitters und der Sturm«, S. 103.
8 Ebd.